Der
Feind
19
»Meine Damen und Herren, die fünfundsiebzigsten Hungerspiele sind eröffnet!« Die Stimme von Claudius Templesmith, dem Moderator der Hungerspiele, hämmert mir in den Ohren. Ich habe weniger als eine Minute Zeit, mich zu orientieren. Dann wird der Gong ertönen und die Tribute können sich von ihren Metallplatten entfernen. Doch wohin?
Ich kann nicht klar denken. Die ganze Zeit habe ich Cinna vor Augen, wie er blutig am Boden liegt. Wo ist er jetzt? Was tun sie ihm an? Foltern sie ihn? Bringen sie ihn um? Verwandeln sie ihn in einen Avox? Offenbar sollte der Anschlag auf ihn mich aus dem Gleichgewicht bringen, genauso wie Darius' plötzliches Auftauchen in meinem Quartier. Und er hat mich wirklich aus dem Gleichgewicht gebracht. Am liebsten würde ich auf meiner Metallplatte zusammenbrechen. Aber nach allem, was ich gerade mit angesehen habe, ist das kaum möglich. Ich muss stark sein. Das bin ich Cinna schuldig, der alles riskiert hat, indem er Präsident Snow verhöhnt und mein Brautkleid in das Gefieder eines Spotttölpels verwandelt hat. Und ich bin es den Rebellen schuldig, die, durch Cinnas Beispiel ermutigt, in diesem Moment vielleicht kämpfen, um das Kapitol zu stürzen. Meine Weigerung, die Spiele nach den Regeln des Kapitols zu spielen, soll mein letzter rebellischer Akt sein. Also beiße ich die Zähne zusammen und mache gute Miene zum bösen Spiel.
Wo bin ich? Ich werde aus meiner Umgebung immer noch nicht schlau. Wo bin ich?! Ich verlange eine Antwort von mir und langsam bekommt die Welt Konturen. Blaues Wasser. Rosa Himmel. Weiß gleißende Sonne, die vom Himmel knallt. Ach ja, da ist das Füllhorn aus goldglänzendem Metall, etwa vierzig Meter entfernt. Erst sieht es so aus, als befände es sich auf einer runden Insel. Doch bei genauerem Hinsehen erkenne ich schmale Streifen Land, die strahlenförmig von der Füllhorninsel ausgehen wie die Speichen eines Rades. Es sind schätzungsweise zehn bis zwölf und sie scheinen alle den gleichen Abstand voneinander zu haben. Zwischen den Speichen ist nur Wasser. Wasser und je zwei Tribute.
So ist das also. Es gibt zwölf Speichen, dazwischen jeweils zwei Tribute, die sich auf Metallplatten halten. Der zweite Tribut in meinem Wasserkeil ist der alte Woof aus Distrikt 8. Er befindet sich zu meiner Rechten, etwa genauso weit entfernt wie der Landstreifen zu meiner Linken. Jenseits des Wassers liegt, wohin man auch blickt, ein schmaler Strand und dahinter dichtes Grün. Ich suche den Kreis nach Tributen ab, halte nach Peeta Ausschau, doch das Füllhorn versperrt mir den Blick.
Ich schöpfe eine Handvoll Wasser und rieche daran. Dann berühre ich mit dem nassen Finger meine Zunge. Salzwasser, ganz wie ich gedacht habe. Genau wie die Wellen, die Peeta und ich auf unserem kurzen Abstecher zum Strand in Distrikt 4 gesehen haben. Aber immerhin scheint es sauber zu sein.
Es gibt keine Boote, keine Seile, nicht mal ein bisschen Treibholz, an dem man sich festhalten könnte. Nein, es gibt nur einen Weg zum Füllhorn. Als der Gong ertönt, zögere ich nicht und tauche nach links. Es ist weiter, als ich gewohnt bin, und durch die Wellen zu schwimmen, ist nicht so einfach wie das Schwimmen in meinem ruhigen See zu Hause, doch mein Körper fühlt sich eigenartig leicht an, und ich gleite mühelos durchs Wasser. Vielleicht liegt es an dem Salz. Tropfnass ziehe ich mich an Land und renne über den Sand bis zum Füllhorn. Ich sehe niemanden, der sich von meiner Seite her nähert, allerdings versperrt mir das goldene Horn zu einem Gutteil die Sicht. Doch ich lasse mich von dem Gedanken an mögliche Gegner nicht bremsen. Ich denke jetzt wie ein Karriero und als Erstes will ich mir eine Waffe schnappen.
Im letzten Jahr waren die Vorräte ziemlich weit um das Füllhorn herum verstreut und die wertvollsten Sachen befanden sich ganz nah am Horn. Doch in diesem Jahr scheint die Beute an der gut sechs Meter hohen Öffnung gestapelt zu sein. Mein Blick fällt sofort auf einen goldenen Bogen in Reichweite und ich reiße ihn heraus.
Da ist jemand hinter mir. Eine leichte Bewegung im Sand oder vielleicht nur eine Veränderung des Luftstroms hat mich alarmiert. Ich ziehe einen Pfeil aus dem Köcher, der immer noch in dem Stapel eingeklemmt ist, und während ich mich umdrehe, spanne ich die Sehne.
Da steht ein paar Meter von mir entfernt Finnick in all seiner Pracht, er hält einen Dreizack bereit. An seiner anderen Hand baumelt ein Netz. Er lächelt ein wenig, aber die Muskeln seines Oberkörpers sind schon gespannt. »Du kannst ja auch schwimmen«, sagt er. »Wo hast du das in Distrikt 12 gelernt?«
»Wir haben eine große Badewanne«, gebe ich zurück.
»Sieht ganz so aus«, sagt er. »Gefällt dir die Arena?«
»Nicht besonders. Aber dir doch sicherlich. Sie haben sie bestimmt extra für dich erbaut«, sage ich eine Spur bitter. So sieht es jedenfalls aus, mit all dem Wasser, denn garantiert kann nur eine Handvoll der Sieger schwimmen. Und im Trainingscenter gab es kein Schwimmbecken, keine Chance, es zu lernen. Entweder kommt man als Schwimmer hierher oder man sollte es schleunigst lernen. Selbst wer nur an dem anfänglichen Blutbad teilnehmen will, muss erst mal zwanzig Meter Wasser durchqueren. Damit hat Distrikt 4 einen gewaltigen Vorteil.
Einen Augenblick lang sind wir wie erstarrt, schätzen einander ab, die Waffen des anderen, sein Geschick. Da grinst Finnick plötzlich los. »Gut, dass wir Verbündete sind. Oder?«
Ich wittere eine Falle und will den Pfeil schon abschießen, in der Hoffnung, dass er sein Herz durchbohrt, bevor ich von dem Dreizack aufgespießt werde, doch da bewegt er die Hand, und etwas auf seinem Handgelenk blitzt in der Sonne auf. Ein Armreif aus massivem Gold mit Flammenmuster. Derselbe, den ich heute Morgen an Haymitchs Handgelenk gesehen habe, als ich mit dem Training anfing. Ganz kurz überlege ich, ob Finnick ihn gestohlen hat, um mich reinzulegen, aber irgendwie weiß ich, dass es nicht so ist. Haymitch hat ihm den Armreif gegeben. Als Zeichen für mich. Oder besser als Befehl. Ich soll Finnick vertrauen.
Ich höre weitere Schritte näher kommen. Ich muss mich sofort entscheiden. »Na gut!«, sage ich schroff, denn auch wenn Haymitch mein Mentor ist und versucht, mir das Leben zu retten, ärgert es mich. Warum hat er mir nichts von diesem Arrangement erzählt? Wahrscheinlich, weil Peeta und ich Verbündete ausgeschlossen hatten. Da hat Haymitch einfach selbst einen ausgesucht.
»Duck dich!«, kommandiert Finnick mich mit durchdringender Stimme, die so ganz anders ist als sein einschmeichelndes Gesäusel, dass ich gehorche. Sein Dreizack saust über meinen Kopf und ich höre einen ekelerregenden Schlag, als er sein Ziel trifft. Der Mann aus Distrikt 5, der Trinker, der sich bei der Schwertkampfstation übergeben hat, sinkt auf die Knie, während Finnick den Dreizack aus seiner Brust zieht. »1 und 2 darfst du nicht trauen«, sagt Finnick.
Es bleibt keine Zeit, das infrage zu stellen. Ich ziehe den Köcher mit den Pfeilen aus dem Stapel heraus. »Jeder eine Seite?«, sage ich. Er nickt und ich sause um den Stapel herum. Etwa vier Speichen weiter schaffen es Enobaria und Gloss gerade an Land. Entweder sind sie langsame Schwimmer, oder sie dachten, im Wasser könnten andere Gefahren lauern, was auch gut möglich ist. Manchmal sollte man sich gar nicht zu viele Gedanken machen. Aber jetzt, da sie am Strand sind, werden sie in wenigen Sekunden bei uns sein.
»Irgendwas Brauchbares?«, höre ich Finnick rufen.
Schnell suche ich den Stapel auf meiner Seite ab und finde Keulen, Schwerter, Pfeil und Bogen, Dreizacke, Messer, Speere, Äxte, Metallgegenstände, die ich nicht benennen kann ... und sonst nichts.
»Waffen!«, rufe ich. »Nichts als Waffen!«
»Hier auch«, gibt er zur Antwort. »Schnapp dir irgendwas und dann weg hier!«
Ich schieße einen Pfeil auf Enobaria ab, die gefährlich nah gekommen ist, doch sie hat damit gerechnet und taucht wieder ins Wasser, ohne getroffen zu werden. Gloss ist nicht ganz so schnell, und ich jage ihm einen Pfeil in die Wade, als er in die Wellen springt. Ich hänge mir noch einen Bogen und einen zweiten Köcher mit Pfeilen um und stecke mir zwei lange Messer und eine Ahle, so ein spitzes Ding, mit dem man Löcher in Ledergürtel macht, in den Gurt. Dann laufe ich zurück zu Finnick.
»Mach was dagegen, ja?«, sagt er und deutet auf Brutus, der auf uns zugerannt kommt. Er hat den Gurt abgenommen und hält ihn wie einen Schild zwischen den Händen. Ich ziele und schieße, doch er wehrt den Pfeil mit dem Gurt ab, bevor er ihm die Leber durchbohren kann. Dort, wo der Pfeil den Gurt durchsticht, spritzt eine lilafarbene Flüssigkeit heraus und Brutus ins Gesicht. Als ich die Sehne erneut spanne, wirft er sich flach auf den Boden, rollt sich ein paar Meter bis zum Wasser und taucht unter. Ich höre, wie hinter mir etwas Metallisches zu Boden fällt. »Lass uns abhauen«, sage ich zu Finnick.
Während ich mit Brutus zugange war, haben Enobaria und Gloss es klammheimlich bis zum Füllhorn geschafft. Brutus ist in Schussweite und irgendwo ganz in der Nähe wird auch Cashmere sein. Diese vier klassischen Karrieros sind garantiert schon längst Verbündete. Wenn ich nur meine eigene Sicherheit zu bedenken hätte, würde ich es vielleicht mit ihnen aufnehmen, mit Finnick an meiner Seite. Doch ich denke an Peeta. Da entdecke ich ihn, er sitzt immer noch auf seiner Metallplatte. Ich laufe los, und Finnick folgt mir, ohne Fragen zu stellen, als hätte er gewusst, dass ich genau das tun würde. Als ich so nah wie möglich bei Peeta bin, ziehe ich die Messer aus meinem Gurt, ich will zu ihm schwimmen und ihn irgendwie an Land bringen.
Finnick legt mir eine Hand auf die Schulter. »Ich hole ihn.«
Misstrauen lodert in mir auf. Könnte das nur ein Trick sein? Erst mein Vertrauen gewinnen und dann zu Peeta schwimmen und ihn ertränken? »Das mach ich schon«, beharre ich.
Doch Finnick hat bereits alle Waffen fallen lassen. »Streng dich lieber nicht zu sehr an. Nicht in deinem Zustand«, sagt er und tätschelt mir den Bauch.
Ach ja, ich bin ja schwanger, denke ich. Während ich überlege, was er wohl denkt und wie ich mich verhalten soll - vielleicht mich übergeben oder so -, hat Finnick sich schon ans Ufer gestellt.
»Gib mir Deckung«, sagt er und taucht mit einem gekonnten Kopfsprung ins Wasser.
Ich halte den Bogen hoch, um alle Angreifer, die uns verfolgen könnten, vom Füllhorn fernzuhalten, aber anscheinend legt es niemand darauf an. Wie zu erwarten, haben sich Gloss, Cashmere, Enobaria und Brutus schon zusammengerottet und überlegen nun, welche Waffen sie nehmen sollen. Ein schneller Rundumblick verrät mir, dass die meisten Tribute immer noch auf ihren Platten festsitzen. Nein, Moment mal, da steht jemand auf der Speiche links neben mir, gegenüber von Peeta. Es ist Mags. Doch weder steuert sie das Füllhorn an, noch versucht sie zu fliehen. Stattdessen hüpft sie ins Wasser und paddelt auf mich zu, ihre grauen Haare tauchen immer wieder auf. Sie ist zwar alt, aber nach achtzig Jahren in Distrikt 4 kann sie sich vermutlich noch immer problemlos über Wasser halten.
Finnick ist jetzt bei Peeta und schleppt ihn ab, einen Arm um seine Brust gelegt, während er mit dem anderen mit leichten Schlägen durchs Wasser rudert. Peeta lässt sich willig mitziehen. Ich weiß nicht, wie Finnick ihn überzeugt hat, sich ihm zu überlassen - vielleicht hat er ihm den Armreif gezeigt. Vielleicht hat es Peeta auch genügt, dass ich auf ihn warte. Als sie den Strand erreichen, helfe ich dabei, Peeta aufs Trockene zu ziehen.
»Da bin ich wieder«, sagt er und gibt mir einen Kuss. »Wir haben Verbündete.«
»Ja. Ganz in Haymitchs Sinn«, sage ich.
»Hilf mir mal auf die Sprünge, haben wir sonst noch eine Abmachung mit irgendwem?«, fragt Peeta.
»Nur mit Mags, glaube ich.« Ich mache eine Kopfbewegung zu der alten Frau, die sich stoisch in unsere Richtung vorwärtskämpft.
»Mags kann ich nicht im Stich lassen«, sagt Finnick. »Sie ist eine der wenigen, die mich wirklich mögen.«
»Ich hab nichts gegen Mags«, sage ich. »Vor allem jetzt, wo ich die Arena sehe. Mit Mags' Angelhaken haben wir bestimmt die besten Chancen, zu einer Mahlzeit zu kommen.«
»Katniss wollte sie ja schon vom ersten Tag an als Verbündete«, sagt Peeta.
»Katniss hat ein erstaunlich gutes Urteilsvermögen«, sagt Finnick. Er fasst mit der Hand ins Wasser und hebt Mags heraus, als wäre sie so leicht wie ein Hündchen. Sie macht irgendeine Bemerkung, in der ich das Wort »treiben« herauszuhören meine, dann klopft sie auf ihren Gurt.
»Guck mal, sie hat recht. Und da hat es noch jemand rausgekriegt.« Finnick zeigt auf Beetee. Er rudert mit den Armen wild durch die Wellen, schafft es aber, den Kopf über Wasser zu halten.
»Was?«, frage ich.
»Die Gurte. Das sind Schwimmhilfen«, sagt Finnick. »Bewegen muss man sich aus eigener Kraft, aber immerhin bewahren die Dinger einen vor dem Ertrinken.«
Fast hätte ich Finnick gebeten, auf Beetee und Wiress zu warten und sie mitzunehmen, aber Beetee ist drei Speichen weit entfernt und Wiress sehe ich nicht mal. Ich schätze, Finnick würde sie genauso schnell umbringen wie den Tribut aus Distrikt 5, deshalb schlage ich lieber vor weiterzugehen. Ich reiche Peeta einen Bogen, einen Köcher mit Pfeilen und ein Messer, den Rest behalte ich für mich. Doch Mags zieht mich am Ärmel und redet auf mich ein, bis ich ihr die Ahle gebe. Erfreut klemmt sie sich den Griff zwischen den zahnlosen Kiefer und streckt die Arme nach Finnick aus. Er wirft sein Netz über die Schulter, hebt Mags hoch, nimmt den Dreizack in die freie Hand, und dann rennen wir davon, fort vom Füllhorn.
Hinter dem Strand erhebt sich ein Wald mit hohen Bäumen. Nein, eigentlich kein Wald. Jedenfalls nicht so einer, wie ich ihn kenne. Ein Dschungel. Das fremde, fast schon veraltete Wort fällt mir ein. Ich habe es in irgendwelchen Hungerspielen gehört oder von meinem Vater gelernt. Die meisten Bäume kenne ich nicht, sie haben glatte Stämme und nur wenige Äste. Die Erde ist ganz schwarz und schwammig, an vielen Stellen wird sie verdeckt von einem Rankengewirr mit bunten Blüten. Die Sonne ist gleißend, die Luft feuchtwarm und schwer; ich habe das Gefühl, dass man hier niemals richtig trocken wird. Der dünne blaue Stoff meines Overalls lässt das Meerwasser schnell verdunsten, aber jetzt klebt er schon vor Schweiß an mir.
Peeta übernimmt die Führung, er bahnt sich mit dem langen Messer einen Weg durchs dichte Gestrüpp. Ich lasse Finnick an zweiter Stelle gehen, denn auch wenn er der Stärkste ist, mit Mags hat er alle Hände voll zu tun. Außerdem kann er zwar großartig mit dem Dreizack umgehen, aber der ist hier im Dschungel weniger nützlich als meine Pfeile. Bei der Hitze und den Steigungen dauert es nicht lange, bis wir außer Atem geraten. Doch Peeta und ich haben hart trainiert, und Finnick hat so eine außergewöhnliche Konstitution, dass er sogar mit Mags über der Schulter eineinhalb Kilometer zügig marschiert, ehe er um eine Pause bittet. Und selbst dann scheint er das eher für Mags zu tun als für sich selbst.
Durch das Laub ist das Rad im Wasser nicht mehr zu sehen, deshalb klettere ich auf einen Baum mit gummiartigen Ästen, um etwas zu erkennen. Ich bereue es sofort.
Um das Füllhorn herum scheint der Boden zu bluten, das Wasser ist dunkelrot gefleckt. Leichen liegen auf dem Boden und treiben im Wasser, doch aus dieser Entfernung kann ich nicht erkennen, wer tot ist und wer lebt, zumal alle die gleiche Kleidung tragen. Ich sehe nur, dass einige der kleinen blauen Gestalten immer noch kämpfen. Nun ja, was hatte ich erwartet? Dass die geschlossene Kette der Sieger gestern Abend eine Art allgemeinen Waffenstillstand in der Arena bedeuten würde? Nein, das habe ich nie gedacht. Aber ich hatte wohl gehofft, dass die Leute ein bisschen ... Zurückhaltung zeigen würden? Oder wenigstens Widerstreben. Bevor sie sich ins Gemetzel stürzen. Dabei kanntet ihr euch alle, denke ich. Man hatte den Eindruck, ihr wärt Freunde.
Ich habe nur einen richtigen Freund hier drin. Und der stammt nicht aus Distrikt 4.
Ich lasse mir von der schwachen, feuchten Brise die Wangen kühlen, während ich zu einer Entscheidung gelange. Trotz des Armreifs sollte ich es einfach hinter mich bringen und Finnick erschießen. Dieses Bündnis hat einfach keine Zukunft. Und er ist zu gefährlich, um ihn laufen zu lassen. Vielleicht ist jetzt, da wir sein zögerliches Vertrauen haben, meine einzige Chance, ihn zu töten. Ich könnte ihm leicht einen Pfeil in den Rücken schießen, während wir gehen. Das ist natürlich verachtenswert, aber wird es weniger verachtenswert, wenn ich warte? Ihn besser kennenlerne? Ihm noch mehr zu verdanken habe? Nein, jetzt ist der richtige Moment. Von meinem Baum aus schaue ich ein letztes Mal zu den Kämpfenden, auf die blutige Erde, um mich in meinem Entschluss zu bestärken, dann lasse ich mich zu Boden gleiten.
Doch als ich unten ankomme, merke ich, dass Finnick mit meinen Gedanken Schritt gehalten hat. Als wüsste er, was ich gesehen habe und wie es auf mich gewirkt haben muss. Er hat seinen Dreizack in einer lässigen Verteidigungshaltung erhoben.
»Was ist da unten los, Katniss? Halten sie sich alle an den Händen? Haben sie die Waffen ins Meer geworfen, um dem Kapitol die Stirn zu bieten?«, fragt Finnick.
»Nein«, sage ich.
»Nein«, wiederholt er. »Denn was gestern passiert ist, war gestern. Keiner in dieser Arena ist zufällig Sieger geworden.« Er wirft einen Seitenblick zu Peeta. »Außer vielleicht Peeta.«
Dann weiß Finnick also, was Haymitch und ich wissen. Über Peeta. Dass er wirklich und wahrhaftig besser ist als wir anderen. Finnick hat diesen Tribut aus Distrikt 5 umgelegt, ohne mit der Wimper zu zucken. Und wie lange habe ich gebraucht, um mich zum Töten zu entschließen? Ich habe auf Enobaria und Gloss und Brutus gezielt. Peeta hätte wenigstens erst mal versucht zu verhandeln. Hätte versucht, ein breiteres Bündnis herzustellen. Aber mit welchem Ziel? Finnick hat recht. Und ich habe recht. Diejenigen, die jetzt und hier in der Arena sind, wurden nicht für ihre Barmherzigkeit zu Siegern gekrönt.
Ich halte seinem Blick stand, schätze ab, wer von uns beiden schneller ist. Die Zeit, die ich brauche, um ihm einen Pfeil durchs Hirn zu jagen, gegen die Zeit, die sein Dreizack bis zu mir braucht. Ich sehe, wie er darauf wartet, dass ich den ersten Schritt mache. Er wägt ab, ob er sich lieber schützen oder direkt zum Angriff übergehen soll. Ich spüre, dass wir beide so weit sind, als Peeta sich zwischen uns stellt.
»Wie viele sind tot?«, fragt er.
Aus dem Weg, du Idiot, denke ich. Aber er weicht nicht von der Stelle.
»Schwer zu sagen«, antworte ich. »Mindestens sechs, glaube ich. Und sie kämpfen immer noch.«
»Kommt, wir gehen weiter. Wir brauchen Wasser«, sagt er.
Bis jetzt gibt es keinen Hinweis auf einen Bach oder Tümpel und das Salzwasser kann man nicht trinken. Wieder denke ich an die letzten Spiele, als ich fast verdurstet wäre.
»Wir sollten zusehen, dass wir schnell welches finden«, sagt Finnick. »Heute Nacht müssen wir uns verstecken, da machen die anderen Jagd auf uns.«
Wir. Uns. Jagd. Na gut, vielleicht wäre es etwas voreilig, Finnick jetzt umzubringen. Bisher war er hilfsbereit. Haymitch hat ihn abgesegnet. Und wer weiß, was die Nacht bereithält?
Schlimmstenfalls kann ich ihn immer noch abmurksen, während er schläft. Also lasse ich die Gelegenheit verstreichen. Wie Finnick.
Die Tatsache, dass wir kein Wasser haben, verstärkt meinen Durst. Ich halte gut Ausschau, während wir weiter bergauf gehen, doch ohne Erfolg. Nach einem weiteren Kilometer sehe ich das Ende des Waldes und schließe daraus, dass wir gleich auf dem Gipfel des Hügels angelangt sind. »Vielleicht haben wir auf der anderen Seite mehr Glück. Vielleicht finden wir da eine Quelle oder so.«
Aber es gibt keine andere Seite. Das weiß ich als Erste, obwohl ich am weitesten vom Gipfel entfernt bin. Mein Blick fällt auf ein merkwürdiges geriffeltes Viereck, das wie eine verzogene Fensterscheibe in der Luft hängt. Erst denke ich, es ist der Glanz der Sonne oder die Hitze, die über dem Boden flimmert. Doch es bleibt immer an derselben Stelle, wandert nicht mit, als ich weitergehe. Urplötzlich stelle ich die Verbindung zwischen dem Viereck und Wiress und Beetee im Trainingscenter her, und ich begreife, was da vor uns liegt. Ich habe den Warnruf auf den Lippen, aber er kommt zu spät: Peeta schwingt schon das Messer, um einige Ranken wegzuschlagen.
Ein lautes Zischeln ertönt. Einen Moment lang sind die Bäume verschwunden und auf einem kleinen Fleck sehe ich die nackte Erde. Dann wird Peeta von dem Kraftfeld zurückgeschleudert und reißt Finnick und Mags mit zu Boden.
Ich renne zu ihm, reglos liegt er in einem Geflecht aus Ranken. »Peeta?« Es riecht schwach nach versengten Haaren. Wieder rufe ich seinen Namen, rüttele an ihm, doch er reagiert nicht. Ich streiche über seine Lippen, und dort ist kein warmer Atem, obwohl er eben noch gekeucht hat. Ich lege das Ohr an seine Brust, dorthin, wo ich immer den Kopf ausruhe, wo ich den starken, gleichmäßigen Schlag seines Herzens höre. Aber es ist ganz still.